Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer

[24] Wenn endlich Juli würde anstatt März,


Nichts hielte mich, ich nähme einen Rand,

Zu Pferd, zu Wagen oder mit der Bahn

Käm ich hinaus ins schöne Hügelland.


Da stünden Gruppen großer Bäume nah,

Platanen, Rüster, Ahorn oder Eiche:

Wie lang ists, daß ich keine solchen sah!


Da stiege ich vom Pferde oder riefe

Dem Kutscher: Halt! und ginge ohne Ziel

Nach vorwärts in des Sommerlandes Tiefe.


Und unter solchen Bäumen ruht ich aus;

In deren Wipfel wäre Tag und Nacht

Zugleich, und nicht so wie in diesem Haus,


Wo Tage manchmal öd sind wie die Nacht

Und Nächte fahl und lauernd wie der Tag.

Dort wäre alles Leben, Glanz und Pracht.


Und aus dem Schatten in des Abendlichts

Beglückung tret ich, und ein Hauch weht hin,

Doch nirgend flüsterts: »Alles dies ist nichts.«


Das Tal wird dunkel, und wo Häuser sind,

Sind Lichter, und das Dunkel weht mich an,

Doch nicht vom Sterben spricht der nächtige Wind;


Ich gehe übern Friedhof hin und sehe

Nur Blumen sich im letzten Scheine wiegen,

Von gar nichts anderm fühl ich eine Nähe.
[24]

Und zwischen Haselsträuchern, die schon düstern,

Fließt Wasser hin, und wie ein Kind, so lausch ich

Und höre kein »Dies ist vergeblich« flüstern!


Da ziehe ich mich hurtig aus und springe

Hinein, und wie ich dann den Kopf erhebe,

Ist Mond, indes ich mit dem Bächlein ringe.


Halb heb ich mich aus der eiskalten Welle,

Und einen glatten Kieselstein ins Land

Weit schleudernd, steh ich in der Mondeshelle.


Und auf das mondbeglänzte Sommerland

Fällt weit ein Schatten: dieser, der so traurig

Hier nickt, hier hinterm Kissen an der Wand?


So trüb und traurig, der halb aufrecht kauert

Vor Tag und böse in das Frühlicht starrt

Und weiß, daß auf uns beide etwas lauert?


Er, den der böse Wind in diesem März

So quält, daß er die Nächte nie sich legt,

Gekrampft die schwarzen Hände auf sein Herz?


Ach, wo ist Juli und das Sommerland!


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erste Reihe in drei Bänden, Band 1, Berlin 1924, S. 24-25.
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