Die Sonne, und die Erde

[244] Sonne.


Rede denn endlich, Erde, verbirg nicht länger den Gram mir,

Welcher dir die Seele durchdringt.

Schweigest du doch, als wären geebnet die Berge dir, alle

Wälder gesunken, die Winde verweht.


Erde.


Lass mich schweigen, des Kreises erhabene Herscherin; Gram wird

Durch die Klage verneut.


Sonne.


Deinen kann die Verneuung nicht bitterer machen, so sehr blickt

Er aus jedem Quell dir umher,

Jedem Kristallsee, jedem der Silberbäche, aus allen

Deinen Augen umher!


Erde.


Wenden kann ich die Blicke; doch hören muss ich! Wie kann ich

Mir der Höhen Geklüft,[245]

Wie die Felsengewölbe mir schliessen? Selber die kleinen

Grotten, schliess' ich mir nicht,

Welche den kaum antönenden Laut mir bringen, der müden

Leiseren Klagen so viel.


Sonne.


Beb' und zerrütte!


Erde.


Kann ich es rings, und von Pole zu Pole?


Sonne.


Aber was hörest du denn?


Erde.


Krieger!


Sonne.


Die sah ich lang; allein ich erstaune, dass diese

Raserey dir das Herz

Stets noch erschüttert. Du hattest Jahrhunderte, Zeit, zu bekämpfen

Deinen Schmerz durch Kälte, dich hart,

Wie den Marmor zu machen, der in dem Orion emporsteigt,

Oder im Siebengestirn.


Erde.


Wie des Orions Marmor? und ich bin Mutter!


Sonne.


Zu sanfte

Mutter bist du! Lass uns die Bahn,

Die gemessen uns ward, mit Fröhlichkeit wallen! des Lebens

Uns geniessen, uns freun[246]

Unserer Freuden, und jener, die dort mit den Welten ertönen

Aus den Ozeanen des Lichts!


Erde.


Kentest du diesen Krieg; du trauertest selber! Vordem war

Mehr denn alle Kriege der Krieg

Mir Entsetzen, welchen sie donnerten wegen der Frage:

Wie sie jenseit des Grabs

Würden glücklich seyn? Jetzt ist mir gleiches Entsetzen

Jede Wunde, die rint,

Jeder Sterbende, der hinsinket, wegen der Frage

Von Glückseligkeit diesseit des Grabs.

(Als sie: Entsetzen! sprach, da führte sie wirbelnden Sturmwind

In Bergwäldern umher.)


Sonne.


Lass uns gleichwohl, o Mutter, mit Fröhlichkeit wallen. Dein Mitleid

Heilet die Rasenden nicht.

Auf denn! du siehest ja schimmern den Hesperus, hörest ihn wandeln,

Und den lieblichen Mond.


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 2, Leipzig 1798, S. 244-247.
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