An meine Freunde in Göttingen

[256] Leipzig, im Jänner 1775.


Von euch, ihr Lieben, fern, irr' ich allein,

Und kummervoll am öden Pleißestrand;

Die Gegend traurt im blassen Winterkleid;

Im stummen Wäldchen krächzen Raben nur![256]


Euch aber, Freunde, schließt im frohen Thal,

Durch das sich still die gelbe Leine krümmt,

Die Freundschaft noch in ihren treuen Arm,

Und scherzt mit euch den trüben Abend weg.


Vom silbernen Klavier strömt Harmonie,

Durch Vossens Hand geleitet, euch ins Herz,

Wenn, mit dem sanften Graun, die Seel' er schmelzt,

Mit Bach in Himmelssphären euch entrückt.

Alsdann spricht hoher Ernst, des Deutschen Freund,

Von eurer Stirn, der Geist fühlt größer sich,

Und stiller, feierlicher wird der Kreis. –


O Vaterland, und du, Religion!

Wie oft schlug unruhvoller euch mein Herz,

Wenn mit den Edeln euch ich huldigte! –


Ihr, Freunde, seid noch Deutsche, wert des Lands,

Das Hermanns Schwert, und Luthers Donnerwort

Vom Joche Roms befreit, und Klopstock sang.

Ihr fühlt noch deutsche Kraft, und Mut zur That;

Fühlt's, daß des Deutschen Erbteil Freiheit ist,

Und straft's, wenn Bubenlist sie stürzen will!


Verachtend blickt auf jeden ihr herab,

Der Fürsten seine feile Harfe stimmt,

Und ihren Lastern Tugendschimmer leiht;

Verachtender auf den, der, feiger noch,

Der Freiheit Wehr, dich, Herzensreinigkeit,

Und, Unschuld, dich mit Lachen untergräbt,

Und Buhlerlüst' in reine Seelen singt. –


O Jüngling Deutschlands, fleuch das freche Lied,

Und wär' in Honig jeder Ton getaucht!

Fleuch, Mädchen, ist dir deine Seele lieb,

Den tückischen, den ehrvergeßnen Mann!


Ihr, Freunde, blickt euch freier an! Ihr sangt

Mit reinem Sinn; die Tugend lächelt euch. –[257]


Doch, warum schleicht der Freudenthräne dort

Die stille, bange Trauerzähre nach?

Was blickt ihr schweigend euch, und ängstlich an?

Durchforscht den stummen Kreis, und wendet euch?


Ach, klein ist er, und manchen Edeln riß

Sein winkendes Geschick aus eurem Arm!

Entfernt von Vaterland und Freiheit, traurt

Schon lang am Belt der Stolberg' edles Herz;

Umsonst sehnt Cramern, Millern ihr zurück,

Und Leisewitz, der kurze Zeit uns ward;

Noch ist um Hahn, den Sklavenhasser, nicht

Versiegt der Trennung Zähr'! Auch mich, der euch

Unsichtbar jetzt umschwebt, sucht euer Blick!


Weint nur um euch! Doch um die Brüder mehr,

Die schwerer noch der Trennung Kummer drückt,

Ach, fern von euch, ihr lieben, einsam drückt!


Hier, wo mein Mißgeschick mich hin verschlug,

Hier schlägt für Freiheit und für Vaterland

Kein Herz an meinem Herzen; einsam fließt,

Und ohne Trost, mir jeder Tag dahin;

Nur Cramer, selber ohne Trost, ist mein.


Und bald werd' ich auch ihm entrissen; bald

Zerstreut auch euren letzten Rest der Sturm;

Und trostlos einsam weinet bald auch ihr.


Doch, lass' sich nur der Trennung Schrecken nahn!

Du, Meer! ihr, weite Länder, reißet nicht

Das unsichtbare, teure Band entzwei,

Das Freiheitslieb' und Tugend uns umschlang.


Einst, wenn in Staube lange wir geruht,

Und Erd' und Himmel sinken, und der Ruf

Des Totenweckers schallt, vereint aufs neu'

Die Tugend uns zum ewigen Triumph!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 256-258.
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