Der Maulwurf

[39] Einst fand ein Maulwurf eine Brille,

Die eine fahrende Sibylle

Aus ihrem Zauberbuch verlor.

Er pflanzt sie rüstig auf die Nase

Und sah gerade – was zuvor.

Pfuy, sprach er, mit dem dummen Glase!

Und warf es weg. Doch plötzlich gieng

Ein Licht ihm auf. Mit trunkner Seele

Fuhr er damit in seine Höhle

Und wies es, als ein Wunderding,

Der Colonie: »Seht, Brüder, sehet,

Rief er von Weisheit aufgeblähet,

Was ich vom Trismegist empfieng!

Ein Glas, wodurch ich Sterne, Maden,

Dämonen, Götter, und Monaden

Mit hellem Aug erblicken kann.«

Itzt fängt er an zu demonstrieren

Und von dem neuen Talisman

So salbungsvoll zu phantasieren,

Daß jeder glaubt es sey was dran.

Die Brüder wolltens auch probiren,

Und ob sie gleich nur Dünste sahn,[40]

So that es nichts. Die Brüder sprachen

Nur desto mehr vom Wunderglas

Und von dem Mann, der es besaß.

Wir müßen ihn zum Doktor machen,

Hieß es, und flugs ward er gekrönt.

Sein Oheim nur, ein alter Späher,

Kratzt sich den Scheitel und verhöhnt

Mit bittrem Spott den neuen Seher;

Allein man gab ihm Hohn für Hohn,

Er ward verdammet und geflohn.

Das kränkt den Alten. In der Stille

Der Nacht bricht er beym Docktor ein,

Stiehlt beyde Gläser aus der Brille

Und deckt den Raub mit einem Stein.

Des Morgens tritt der neue Weise,

Mit dem entlehnten Augenpaar

In seiner Schüler dichte Kreise

Und zeiget der entzückten Schaar

Trotz einem epischen Poeten,

Viel wunderschöne Raritäten.

Er ward des Diebstahls nicht gewahr,

Als aus dem Dunkel eines Winkels

Der Oheim auf den Lehrstuhl sprang:

»Das Fratzenspiel des Eigendünkels

Und des Betrugs währt allzulang;[41]

Ich muß des Hermes großem Schüler

Die Maske von der Stirne ziehn!«

Rief er und warf dem Schattenspieler

Die Gläser vor die Füße hin.

Er schweigt. Tumult erfüllt die Grotte;

Der Doktor stutzt, die ganze Rotte

Fällt racheschnaubend über ihn;

»Vergeßt euch nicht in eurem Grimme,

Rief der Adept mit dreuster Stimme,

Ihr Herrn macht euch nicht lächerlich!

Wahr ists, ich hab euch täuschen wollen;

Doch ihr betrogt euch mehr als ich,

Denn unter uns, ihr hättet mich

Nicht gleich zum Doktor machen sollen.«

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 39-42.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln und Erzählungen
Politische Fabeln und Erzählungen in Versen
Fabeln Und Poetische Erzählungen, Volume 2 (German Edition)
Fabeln Und Poetische Erzählungen, Volume 1 (German Edition)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon