Die Ewigkeit

[327] Heut hebet meine Seele sich

Aus ihren engen Schranken,

Und wagt mit tiefstem Ernste dich,

Furchtbarster der Gedanken!

Dich, schauervolle Ewigkeit!

Dich, Urquell der vergangnen Zeit

Und aller Künftigkeiten.[327]


Ich Sonnenstaub von gestern her

Soll mich an's Ufer wagen,

Wohin vom unbeschifften Meer

Die schwarzen Wogen schlagen?

An ungeheure Tiefen, wo

Zahllose Welten, leicht wie Stroh

Auf Meereswogen schwimmen?


Und wagt es meine Seele gleich,

Mit eines Cherubs Schwingen

In dieses unbeflogne Thal

Der Ewigkeit zu dringen:

Nach tausend Jahren steh' ich doch,

Ach nach Aeonen, immer noch,

Wie heute an dem Ufer.


Bald läßt der Geist ihn weit zurück

Den Anfang aller Zeiten;

Bald wagt er einen scharfen Blick

In tausend Künftigkeiten;

Doch dort und da ist Ewigkeit,

Und überall ist Ewigkeit,

Und meine Flügel sinken.


Schaut Sterne, Sonnen, Welten an,

Und zählet ihre Heere;

Erschöpft den ganzen Ocean,

Und wägt den Sand am Meere;

Vermehrt die ungeheure Zahl

Mit tausendmillionenmal,

Und alle Zahl verschwindet.


Und hier! im grenzenlosen Reich

Namloser Ewigkeiten

Sind – Seelen bebet! – sind vor euch

Nur Qualen oder Freuden.

Die Qual, die ohne Ende dräut!

Die Freude einer Ewigkeit!

Ich denke sie, und bete:[328]


Gott, der da sein wird, war und ist!

Ohn' Anfang, ohne Ende!

Im Staube jammert hier ein Christ

Und faltet seine Hände.

Laß mich durch deines Sohnes Pein

Nicht ewiglich verloren sein,

Du Vater des Erbarmens!


Herr Jesu! will des Richters Glut

Mich schon von ferne tödten,

So laß dein Blut, dein theures Blut,

Zu meiner Rettung reden.

Geist Gottes, führe aus der Zeit

Mich in die frohe Ewigkeit!

Dann jauchz' ich durch den Himmel:


Unsterblich Lob sei Gott! Durch seines Sohnes Wunden

Hab' ich den Todeskampf gekämpft und überwunden.

Hör' mich, o Ewigkeit! Jauchzt, Himmel, jauchzt, wie ich!

Vor Wonne bin ich stumm – Ihr Engel, singt für mich!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 327-329.
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