Sang an den Tod

[17] Aus der Trauer-Ode zu Lincolns Gedächtnis


Kommt, lieblicher und linder Tod!

Umwoge die Welt, heiter nahend, nahend

Am Tage, bei Nacht, allen, jedem,

Früh oder später, lieblicher Tod.


Gelobt sei das unergründliche All,

Für Leben und Lust und für die Dinge wundersam und das Forschen,

Und für die Liebe, die süße Liebe! Doch dreifach gelobt

Die sicher umwindenden Arme des kühl umfaltenden Todes!


Dunkle Mutter, näher gleitend, leisen Fußes,

Hat dir noch niemand ein Lied des Willkommens gesungen?

So singe ich eins! Dich will ich preisen vor allen,

Dir bring ich mein Lied, damit du ohne zu wanken kommst,

Wenn du kommen mußt.


Komm, starke Erlöserin!

Wenn es so ist, nimmst du sie hin, preise ich freudig die Toten,

Die du im Meer deiner gleitenden Güte

Badest in seligen, Fluten des Friedens, o Tod!


Dir gilt mein fröhliches Ständchen,

Tänze schlag ich dir vor, Feste und schmückende Zier;

Dir frommt das Lachen der Landschaft, der hochumspannende Himmel,

Die Frische der Felder und die große, gedankenvolle Nacht!
[18]

Die Nacht, das Schweigen unter den Sternen,

Der Meeresstrand mit den raunenden Wellen,

Deren Stimme ich kenne,

Wenn die Seele dir zugewendet,

Und der Leib dankbar sich an dich schmiegt,

Du weitwirkender, wohlumschleierter Tod!


Über den Baumwipfeln sing ich dir zu,

Über den steigenden, fallenden Wogen,

Über den Ackergefilden und den weiten Prärien,

Über den eng gepackten Städten, Werften und Wegen,

Mit ihrem Waren- und Menschengewimmel,

Singe ich diesen Lobgesang mit Freuden dir zu, o Tod!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Zum Gegenklang meiner Seele

Rief in reinen ruhigen Tönen

Laut und gehalten der graubraune Vogel,

Dessen Stimme weithin die Nacht erfüllt.


Laut in den Föhren und Zedern,

Klar in der feuchten Frische, über dem Sumpfgeruch –

Und ich mit meinem Gefährten dort in der Nacht.

An meinen ungeschlossenen Augen vorbei

Zog ein Panorama von Bildern.

Ich sah eine schräge Schlachtordnung;

Dann, wie im Traum, lautlos, Hunderte von Fahnen

Durch den Qualm der Geschütze getragen,

Durchlöchert von Kugeln,

Hin und her im Dampf, zerrissen und blutig,

Bis zuletzt – immer noch lautlos – nur wenige Fetzen

Flattern an den zersplitterten Schaften.
[19]

Ich sah unzählige Leichen liegen

Und die Gerippe von jungen Männern – ich sah sie –

Die Trümmer aller Gefallenen des großen Krieges.

Aber ich sah, daß sie anders waren als man gedacht;

Sie selber lagen im Frieden, sie litten nicht,

Die Lebenden blieben und litten – die Mütter litten,

Die Frauen und Kinder, der sinnende Waffengefährte,

Und die übriggebliebenen Heere – sie litten.

Quelle:
Whitman, Walt: Grashalme. Leipzig 1904, S. 17-20.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Grashalme (Auswahl)
Grashalme
Grashalme
Grashalme
Grashalme: Auswahl
Grashalme

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon